Warum noch Gedichte?

Warum lesen wir heutzutage lieber gute Bücher oder Kurzgeschichten als ein Gedicht? Aus eigenem Interesse würde heute von uns Jugendlichen fast keiner ein Gedicht lesen, aus dem einfachen Grunde, weil sie oft zu schwer verständlich sind und man dabei zuviel nachdenken muß.


Gedichte, von denen meine Altersstufe sich angesprochen fühlt, sind solche mit epischem Inhalt: mit Spannung und in einfacher, überschaubarer Form (Balladen etc.). Am schwersten zugänglich sind lyrische Gedichte und besonders die der Romantik. Wir Jugendlichen lesen z. B. lieber Geschichten, die wir ohne viel nachzudenken verstehen; denn zum Lesen und Verstehen eines lyrischen Gedichtes muß man Zeit haben. Deshalb nehmen wir auch lieber ein spannendes Buch zur Hand als ein Gedichtbuch. Gedichte scheinen uns Schülern nur für eine bestimmte Schicht geschrieben zu sein. Warum, so frage ich mich oft, muß man ein Gedicht wieder und wieder lesen und kommt doch oft nicht dahinter, was es uns sagen will?


Mit modernen, gegenwartsbezogenen Gedichten können wir schon mehr anfangen und uns sofort etwas dabei denken. Überhaupt, wir wünschen Gedichte, die wir auf unser eigenes Wesen und auf unsere eigenen Gedanken beziehen. Es mag sein, daß unser Erfahrungsbereich noch nicht groß genug ist, und daß wir in 20 Jahren vielleicht anders darüber denken werden.


Von dem Gedicht "Geduld" (1944) von Marie-Luise Kaschnitz war ich gleich stark beeindruckt, wenn ich auch die Kriegszeit, in der es entstand, nicht mitgemacht habe. Aber es sagt mir doch auch etwas für die Gegenwart mit ihren Spannungen und Nöten.


INGE JULIUS, 10 b